Transgenerationales Trauma
Die Forschung zeigt, dass transgenerationales Trauma mindestens drei Generationen betreffen kann. Der Mechanismus dieser Weitergabe erfolgt häufig durch epigenetische Veränderungen, die durch traumatische Erfahrungen ausgelöst werden. Diese Veränderungen beeinflussen die Genregulation, insbesondere in Bezug auf die Stressantwort, und können über mehrere Generationen hinweg weitergegeben werden (Yehuda et al., 2016).
Beispielsweise zeigte eine Studie an Holocaust-Überlebenden, dass epigenetische Marker, die mit Stressregulation in Zusammenhang stehen, nicht nur bei den Überlebenden selbst, sondern auch bei ihren Kindern und Enkeln nachweisbar waren. Eine andere Studie fand heraus, dass Nachkommen von Veteranen des Vietnamkriegs, die unter posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) litten, ebenfalls eine erhöhte Anfälligkeit für PTBS aufwiesen, was auf eine epigenetische Vererbung hindeutet (Yehuda et al., 2014).
In Tiermodellen konnte die epigenetische Übertragung von Stress und Trauma über mindestens drei Generationen nachgewiesen werden. So veränderte etwa die frühe Trennung von Muttertieren bei Mäusen nicht nur das Verhalten der Nachkommen, sondern führte auch zu molekularen Veränderungen in deren Gehirnen, die sich auf die Stressregulation und emotionales Verhalten auswirkten. Diese Veränderungen waren noch in der dritten Generation nachweisbar (Franklin et al., 2010).
Rolle der Epigenetik und Umwelteinflüsse
Neben epigenetischen Mechanismen spielen auch soziokulturelle und psychologische Faktoren eine wesentliche Rolle bei der Weitergabe von Trauma. Kinder von traumatisierten Eltern lernen oft unbewusst deren Verhaltens- und Bewältigungsstrategien. Dies kann zu einem „Erbe der Angst“ führen, das sowohl auf bewusster als auch auf unbewusster Ebene weitergegeben wird. Zum Beispiel neigen Eltern, die unter unverarbeiteten Traumata leiden, dazu, in belastenden Situationen übermäßig besorgt oder zurückgezogen zu reagieren. Solche Verhaltensweisen können von ihren Kindern übernommen und in deren eigenen Beziehungen und Lebensbewältigungsmustern manifestiert werden (Danieli, 1998).
Ein weiterer Aspekt, der in der Forschung hervorgehoben wird, ist die Möglichkeit, dass traumatische Ereignisse nicht nur innerhalb einer Familie, sondern auch innerhalb von Gemeinschaften weitergegeben werden können. Dies gilt insbesondere für Gruppen, die durch historische Traumata betroffen sind, wie indigene Völker, die Kolonialisierung und Unterdrückung erlebt haben. Das Konzept des "kollektiven Traumas" beschreibt hier, wie ganze Gemeinschaften unter den langfristigen Auswirkungen solcher traumatischer Ereignisse leiden und diese über Generationen hinweg weitergeben (Brave Heart, 1998).
Mögliche Einflussfaktoren auf die Weitergabe von Trauma
Es gibt verschiedene Faktoren, die die Weitergabe von Trauma beeinflussen können. Dazu gehören:
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Schwere und Dauer des Traumas: Je intensiver und länger die traumatische Erfahrung war, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie über Generationen hinweg weitergegeben wird. Ein Beispiel hierfür sind Überlebende von Genoziden oder massiven Vertreibungen, deren Nachkommen oft ähnliche psychologische Symptome zeigen (Yehuda et al., 2016).
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Alter der betroffenen Person: Der Zeitpunkt des Traumas spielt eine wesentliche Rolle. Studien zeigen, dass traumatische Erfahrungen, die in der frühen Kindheit erlebt werden, tiefere und länger anhaltende Auswirkungen haben können als jene, die im Erwachsenenalter auftreten (Yehuda et al., 2014).
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Resilienz und Bewältigungsstrategien: Nicht alle Nachkommen von traumatisierten Individuen entwickeln zwangsläufig psychische oder körperliche Symptome. Resilienzfaktoren wie soziale Unterstützung, Bildung und psychologische Hilfe können helfen, die Auswirkungen von transgenerationalem Trauma zu mildern. Hier spielen auch präventive und therapeutische Interventionen eine wesentliche Rolle, die darauf abzielen, das Trauma zu verarbeiten und den Zyklus der Weitergabe zu durchbrechen (de Haan et al., 2021).
Psychologische und kulturelle Weitergabe
Neben den biologischen Mechanismen ist auch die psychologische und kulturelle Weitergabe von Trauma von Bedeutung. Eltern, die unter unverarbeiteten Traumata leiden, neigen oft dazu, unbewusst ihre Ängste und Sorgen an ihre Kinder weiterzugeben, was zu Verhaltensmustern wie Angst, Misstrauen oder emotionaler Distanz führt. Dies kann sich in der Erziehung widerspiegeln und so zu einem „Kreislauf des Traumas“ beitragen.
In bestimmten kulturellen Kontexten kann transgenerationales Trauma auch durch kollektive Erinnerung und Erzählungen weitergegeben werden. Dies gilt insbesondere für Gemeinschaften, die historische Traumata wie Kolonisation oder ethnische Verfolgung erlebt haben. Die Aufrechterhaltung kultureller Traditionen, die diese Traumata thematisieren, kann sowohl heilend als auch belastend sein, da sie gleichzeitig das Bewusstsein für vergangenes Unrecht wachhält und als ständige Erinnerung an die traumatischen Erlebnisse dient (Brave Heart, 1998).
Neue Entwicklungen
Die Forschung zum transgenerationalen Trauma entwickelt sich stetig weiter. Ein aufkommender Bereich ist die Erforschung, wie Umweltfaktoren und individuelle Bewältigungsstrategien die epigenetische Weitergabe von Trauma beeinflussen können. Studien deuten darauf hin, dass positive Interventionen, wie etwa Resilienztrainings oder psychosoziale Unterstützung, möglicherweise die epigenetischen Marker verändern und so den Zyklus der Weitergabe unterbrechen können (Yehuda et al., 2014).
Diese Studien zeigen, dass transgenerationales Trauma ein weitverbreitetes und komplexes Phänomen ist, das viele Gemeinschaften und Kulturen betrifft.
Literaturverzeichnis:
- Brave Heart, M. Y. H. (1998). The return to the sacred path: Healing the historical trauma and historical unresolved grief response among the Lakota through a psychoeducational group intervention. Smith College Studies in Social Work, 68(3), 287-305.
- Danieli, Y. (1998). International handbook of multigenerational legacies of trauma. Springer.
- Franklin, T. B., Russig, H., Weiss, I. C., Gräff, J., Linder, N., Michalon, A., ... & Mansuy, I. M. (2010). Epigenetic transmission of the impact of early stress across generations. Biological Psychiatry, 68(5), 408-415.
- de Haan, A., Boon, A. E., de Jong, J. T., & Vermeiren, R. R. (2021). A systematic review of the intergenerational transmission of trauma across complex posttraumatic stress disorder and its related disorders. European Journal of Psychotraumatology, 12(1), 1870517.
- Yehuda, R., Daskalakis, N. P., Lehrner, A., Desarnaud, F., Bader, H. N., Makotkine, I., ... & Bierer, L. M. (2016). Influences of maternal and paternal PTSD on epigenetic regulation of the glucocorticoid receptor gene in Holocaust survivor offspring. American Journal of Psychiatry, 171(8), 872-880.